Schizzenbuch zur As-dur Sonate op. 26

VON LUDWIG VAN BEETHOVEN
HERAUSGEGEBEN von ERICH PRIEGER. Verlag von Friedrich Cohen in Bonn 1895

VORBEMERKUNG

Das Beethoven’s Autograph der As-dur-Sonatc op. 26, jetzt Eigenthum der Königlichen Bibliothek zu Berlin, galt lange Zeit als verschollen. Am 18. Mai 1878 entdeckte ich dasselbe mitten in einem Haufun von Maculatur, von alten medicinischen und theologischen Werken, Haushaltungs-Büchern und dergleichen, die auf dem Zimmerboden eines Privathauses zusammengeworfen waren. Seit Jahren war es meine Absicht, eine neue Ausgabe dieser Sonate zu veranstalten; indem ich dieselbe jetzt den Verehrern Beethoven’s vorlege, habe ich das getreueste Verfahren gewählt: den Lichtdruck. Keine andere Hersteflungs- weise kann das Original in allen seinen Einzelheiten genauer wiedergeben, und ein Vergleich mit ähnlichen Ausgaben, beispielsweise den von der Deutschen Handel-Gesellschaft veröffentlichten Oratorien „Messias“ und „Jephtha“, zeigt die weit grössere Lebhaftigkeit der Darstellung, wogegen jenen alteren Methoden etwas Kaltes, Todtes anhaftet. Meines Wissens ist es das erste Mal,  dass ein vollständiges classische Musikwerk im Lichtdruck erscheint, wahrend derselbe auf anderem Gebiete schon oft verwendet worden ist; ich brauche nur aul die von Sybel und Sickel herausgegebenen “Deutschen Kaiserurkunden“ hinzuweisen, die, wie vorliegendes Facsimile, aus demselben vortrefflichen Atelier von Albert Frisch, Berlin, hervorgegangen sind. Auf einen Punkt muss ich hier besonders hin weisen: der Lichtdruck gibt die gelben Papierflecken in verstärkter Weise schwarz wieder; in gewissem Sinne konnte man auch hier das Dichterwort anwenden: .Die Sonne bringt es an den Tag“. Da bei dieser Ausgabe jede künstliche Nachhülfe vermieden werden sollte, musste es so belassen werden.

Beethoven hat die Sonate im Jahre 1802 veröffentlicht, der Titel der Original-Ausgabe — in der Wiener Zeitung vom 3. Marz 1802 als “ganz neu erschienen”  angezeigt — lautet: Grande Sonate pour le Clavecin ou Forte-Piano. Composée  et dediée à  Son Altesse Monseigneur le Prince Charles de Lichnowsky par Lovis van Beethoven Oeuvre 26. à Vienne chez Jean Cappi sur la place St. Michel N.ro. 4 (Verlags-Nummer 880, querfolio). Skizzen zur Sonate sind nur sehr lückenhaft vorhanden. Nach einem auf der Königlichen Bibliothek zu Berlin befindlichen Notirungsbuche) (Sammlung Landsberg, Band 7) zu urtheilen, arbeitete Beethoven zu derselben Zeit an der As-dur-Sonate, den Violin-Sonaten op. 23 in A-moll, op. 24 in F-dur, dem 2. und 4. Satze der Es-dur-Sonate op. 27, dem I Satze der D-dur Symphonie op. 36, dem Ballet „Die Geschöpfe des Prometheus“, der Bagatelle op. 33 No. 7.

Mit Ausnahme der Symphonie welche Ende 1802 vollendet und erst 1804 veröffentlicht wurde, waren alle jene Werke gegen Ende des Jahres 1801 druckfertig. Man wird also die Arbeit an der Sonate in die Jahre 1800-1801 zu verlegen haben. In dem Notirungsbuche selbst herrscht keineswegs eine chronologische Ordnung. Eine Anzahl Blatter sind in der Mitte gebrochen, wurden also vermuthlicjg in der Tasche mitgenommen und viel spater erst mit den übrigen paginirt und zusammengebunden. Die folgenden Citate entsprechen in der Form den Niederschriften des Componisten, der die Vorzeichnungen in der Eile nicht immer vollständig zu notiren liebte; einzelne Zuthaten sind in Klammem beigesetzt.

Das Das Thema der Variationen. welches übrigens in einigen characteristischen Intervallen an das im Jahre 1808 entstandene Allegretto des Es-dur-Trios op. 70 erscheint zuerst Seite 56 im Zusammenhang mit einer den Plan der Sonate  anzeigenden Bemerkung:

variée  tutt a fatto — poi Menuetto o qualche altro pezzo characteristica come p. E. una Marcia in as moll e poi questo. Dicht darunter steht folgender befremdende Entwurf von 9 Tacten:

An Stelle des Scherzo war zuerst ein minuetto in Des-dur gedacht:

Der Trauermarsch zeigt in der skizzenhaften Entwickelung auf’s Neue das Characteristiche in Beethoven’s Schaffen das Fortschreiten von einfachen, manchmal gewöhnlichen Wendungen zu tielerer, machtvollerer Darstellung. In einer Niederschriften erscheint der Quartenschritt aufwärts nach As als eine Abschwachung, in einer spateren

abgekurten Niederschrift wird dann die obersteStimme auf der endgultingen Tonhole fixirt:

In diese ersten Entwurf zum trio sind je 2  Tacte mit einander verbunden; durch einen Hinweis (vide) erweitert Beethoven den musikalischen Satz zu einem viertactigen und beseitigt  damit die Kurzatmigkeit und Einförmigkeit,

die jenem entschieden anhaftete. Der Schluss des Marsches wird  zuerst in folgenden Gestalten niedergeschrieben:

Von dem Finale lässt sich vermuthen, dass die Arbeit daran nicht so leicht von Statten ging; trotzdem finden steh verhältnismässig wenig Skizzen. Von dem folgenden ersten Entwurf  ist nicht viel in das fertige Werk abergegangen; die Sextolen-Figur wurde ebenso beiseite geschobm wie die auf der Stelle klebende Modulation der beiden Sehlusstacte:

Zum ersten Male in Wien aufgeführt, die Sonate aber wahrscheinlich erst gegen Ende 1801 fertig wurde, so ist die Möglichkeit dieser Altregung gegeben. Den Trauer-Marsch hat Beethoven selbst zur Zeit des Wiener Congresses (1815/16) fur Orchester übertragen.Die Tonart ist hier  H-moll, ausser den Streich-instrumenten werden verwendet: 2 Roten, 2 Clarinetten in A, 2 Fagotte, 2 Horner in D, 2 Horner in h und Pauken, Am Schluss hesst es mit Bleistift: „In gehender annehmlicher Bewegung,” Den Marsch hat Beethoven damals zur Musik für ein Drama “Eleonore Prohaska” von joh. Fr, Leop. Duncker umgeschrieben). Im Druck ist diese Umarbeitung noch nicht erschienen.

Die weite Mittheilung betrifft das Finale. In Bezug hirauf  schreibt Carl Czerny): ..”Dieses Finale ist in jener gleich-massig bewegt fortlaufenden Manier, wie in manchen Sonaten Ctamer’s (dessen damalige Anwesenheit in Wien auch Beethoven zur Composition dieser Sonate anregte)”. Czerny macht hierzu noch die Anmerkung: „Gramer erregte damals durch 3 (Jos. Haydn gewidmete) Sonaten, wovon die erste auch in As-dur ist, grosses Aufsehen.“ Wahrend seines Wiener Aufenthaltes stand Cramer in freundschaftlchten Verkehr) mit Beethoven. Dass Letzterst die von einem der angesehensten Klavier-Virtuosen für sein Lieblings-Instrument geschriebenen, einem Haydn gewidmeten Sonaten) nicht unbeachtet gelassen hat, ist sicher anzunehmen, ein Leber sehen wäre um so weniger glaubhaft, da die von Beethoven regelmassig gelesene Leipziger „Allgemeine Musikalische Zeitung” damals eine eingehende und heute noch lescnswerthe Kritik  Ober Cramer’s Werk brachte). Von spateren Werken Cramers hat Beethoven den berühmten „Etüden“ ganz besondere Beachtung geschenkt, er hat eine Auswahl derselben „zum Studium für seinen Neffen didactisch  vorbereitet”); und „diese Etüden nach der von ihm angegebenen Weisung der Behandlung als die geeignetste Vorschule zu seinen Werken betrachtet”) Nach alledem erscheint Czerny’s Bericht von einer Beeinflussung durch Cramers Manier als völlig glaubhaft gerechtfertigt Beethoven hat sich in der That stilistisch und formell anregen lassen Geht man auf die Sonaten Cramer’s, und zwar besonder auf die erste in As-dur, naher ein, so kann sogar zugegeben warden, das seine musicalische Beeinflussung stattgefunden hat.

Die Achnlichkeit ist allerdings nur eine entfernte und zeigt sich  mehr in der Anlage als in der Melodiebildung, Am auffallendsten erscheint eine gewisse Uebereinstimmung mit dem folgenden

Letzten Citate. Zusammengehalten mit dem hier wiedergegebenen Anfang von Cramer’s Finale erscheint nun auch jenes, in dieser Vorrede als zweites Beispiel gebrachte, etwas sonderbare Satzchen in einer anderen Beleuchtung; es ist vielleicht als eine flüchtige Vorstudie zu Cramer’s Sextengangen zu betrachten. Interessant ist noch, was der Jugendfreund Wegeler berichtet); Beethoven wünschte zugleich einen Text zu dem Thema der Variationen zu haben, … den ich ihm jedoch, da er mir selbst nicht genügte, so wenig wie einen andern je Übermächte. Auf diese Anregung hin oder selbstständig sind seitdem einige Versuche gemacht worden, eine passende Wortunterlage zu finden).

Zahlreich sind die poetischen Deutungen, die gerade diese Sonate gefunden hat. Einer solchen Deutung — der Zeit nach vielleicht der ersten, die überhaupt zu einem musikalischen Kunstwerk erschienen ist « sei ganz besonders gedacht; sie rührt von einem Manne her, den Beethoven selbst achtete und zu seinem Biographen wünschte; es ist die „Comraentatiuncula in usum Delphini” von Friedrich Rochlitz).

Zahllos sind die Ausgaben, die von diesem Werke veröffentlicht wurden. Wenn es auch hier nicht meine Absicht sein kann, alle aufzuzahlen oder gar einer kritischen Durchsicht zu unterziehen, so mag es doch gestattet sein  auf eine besonders zu verweisen, da sie, wie keine andere, eine vollständige, durchdringende Arbeit aufzeigt —, die intensive Arbeit eines geistvollen Mannes. Ich meine die zuerst 1876 bei Josef Aibl in Munchen erschienene Ausgabe Hans von Bulow’s. Mag man sich auch vielen Vorschlägen oder Auffassungen gegenüber ablehnend verhalten, immer wird man ihm auch im Widerspruch eine nach« haltige Anregung verdanken.

Zwei Bemerkungen »eien hier hervorgehoben; die erste betrifft die vierte Variation: „Der dialogisirende Character dieser Variation (dessen Dirstdlungsform. nämlich die abwechselnde VertheOung in verschiedene Register, besonders von Mendelssohn eine häufige Nachbildung erfahren hat) erheischt, unserer Meinung nach, auch eine demgemass characteristische Schattirung, für die wir specicll itn Mittcbatze eine freie, nach individuellem Geschmacke leicht zu modifizirendc Ausführung notirt haben.“

Die zweite Bemerkung betrifft die Gesanunt’Auffassung des Werkes: “Im Gegensätze zu den meisten Sonatendichtungen des Meisters, bei denen die einzelnen Satze in solch innigem psychologischen Zusammenhange mit einander stehen, dass ihre Aufeinanderfolge ohne Schaden für die Wirkung keine Unterbrechung erleiden darf, kommt eine solche Forderung bei Op. 26 ganz in Wegfall. Wir möchten sie in diesem Sinne eine (moderne) „Suite“ benennen, da der schönen reichen Mannigfaltigkeit keine andere Einheit als die der Tonart zugcsdlt ist Aus diesem Grunde gestattet sich ebensowohl der Einzelvortrag jedes der vier Stücke, als auch etwa eine veränderte Reihenfolge-, z. B. Trauermarsch, Scherzo, Variationen, Rondo — welche vielleicht „effectvoller — sein dürfte.“

Nicht nur bei den ..Deutungen“ gehen die Ansichten auseinander, sondern auch im Gebiete der reinen Technik. Hier stehen sogar die ersten Fachmänner gegen einander, in einem Aufsätze Adolph von Henselt’s (Einige Bemerkungen über Klavierunterricht: Der Klavier-Lehrer, Berlin 1865. No. 19—21 > heisst es in Bezug auf die Schluss-Tacte des Scherzo: „Ueberhaupt ist ein Konsequenter Fingersatz oft vorzuziehen, selbst wenn mit Unbequemlichkeit verbunden: z. B. die nachfolgende Stelle ist gewiss auf keine Weise so leicht ausführbar, als auf die angegebene:

Hinsichtlich der unter dem System angebenen Bezeichnung schreibt Henselt: Dieser Fingersatz wird die Intention Beethoven’s nie zur Geltung kommen lassen.“ Nun es ist interessant zu sehen, dass gerade dieser Fingersatz ausdrücklich von Hans von Bülow vorgeschrieben ist, der also damit „die Intentionn Beethoven’s hatte nie zur Geltung kommen lassen.“

BONN, im November 1894

Erich Prieger