Gustav Nottebohm – Beethoveniana – XIV – Die Ouverture Op. 115. (Seite 37)

Aufsätze und Mittheilungen von Gustav Nottebohm
Leipzig, Verlag von C. F. Peters 1872

In Verzeichnissen und auf Concert-Programmen findet man die Ouverture Op. 115 zuweilen als »Ouverture zur Namensfeier« angegeben. Es lässt sich hier die Frage aufwerfen: hat die Ouverture auf den Beinamen »zur Namensfeier« Anspruch?
Das in der Hofbibliothek in Wien befindliche Original-Manuscript hat die Ueberschrift: »Ouverture von LvBtbven am ersten Weinmonath 1814 — Abends zum Namenstag unsers Kaisers«. Hiernach scheint es, dass die Ouverture zur Feier des Namenstages geschrieben wurde und aufgeführt werden sollte. Sie wurde aber nicht am 4. oder 3. October 1814, dem Namenstag des Kaisers Franz II und seinem Vorabend, sondern erst am 25. December 1815 aufgeführt in einem zum Besten des Bürgerspitals zu St. Marx im grossen Redouten-Saale gegebenen Concerte. Auf dem Zettel war sie nur als »Ouverture« bezeichnet, also ohne jeden Beisatz, der eine Deutung auf ein Namensfest zuliesse*). Die zweite und dritte Aufführung fand Statt am 16. und 23. April 1818 in zwei von Moscheles, Giuliani und Mayseder gegebenen »musikalischen Unterhaltungen«**). Schindler erzählt (Biogr. 3. Aufl.. I. 218: vgl. auch II, 153): »Am 10. Mai 1818***); erschien diese Ouverture (Op. 115) in zweiter Aufführung im Concerte der Herren Mayseder, Moscheles und Giuliani mit dom Beisatze: “à la Chasse”, Beethoven frug nach dem Grund solcher Benennung, und wer sich dies erlaubt. Es war jedoch nichts zu ermitteln, weil ein Theil die Schuld aut den andern geschoben. Der Breitkopf und Härtel’sche Katalog benennt diese Ouverture »Namensfeier«, vielleicht, weil sie am Christtag zur erstmaligen Aufführung gekommen«. Aus letzterer Bemerkung ist zu entnehmen, dass Schindler von der Ueberschrift des Autographs keine Kenntniss hatte. Dann wurde, die Ouverture aufgeführt am 6. December 1818 in einem Concerte der Gebrüder Wranizky. In den Berichten über dieses Concert wird sie »Jagdouverture« genannt****). Endlich gab Beethoven das Werk heraus unter dem Titel :»Grosse Ouverture in C-dur gedichtet für grosses Orchester und Seiner Durchlaucht dem Fürsten und Herrn Anton Heinrich Radzivil …. gewidmet« u. s. w. *****)
Aus allen diesen Daten geht hervor, dass, wenn Beethoven die Ouverture auch ursprünglich für ein Namensfest geschrieben, er doch später jede Hindeutung auf eine solche Bestimmung vermieden hat. Die Ouverture an und für sich kann also auf den Beinamen »zur Namensfeier« keinen Anspruch machen.
Es bleibt nun noch die Frage übrig: kann die Ouverture ihrer Entstehung nach auf den Beinamen »zur Namensfeier« Anspruch machen? Ist sie eine Gelegenheits-Composition, oder nicht ?
Auf einigen zerstreuten Blättern, welche, wie sich später zeigen wird, wenigstens drei Jahre vor der Composition der Ouverture Op. 115 beschrieben wurden, finden sich Ansätze zu einer Arbeit, in welcher ein Thema vorkommt, welches uns als das Thema der Mittelpartie der Ouverture Op. 115 bekannt ist. Beethoven hat die Arbeit ausführen wollen und angefangen, sie in Partitur zu schreiben. Was für ein Werk es werden sollte, ist zweifelhaft. In der angefangenen Partitur ist nur die oberste Zeile, welche die erste Violin-Stimme enthält, ausgeschrieben. Hierin kommt folgende Stelle vor:
Die unteren, leer gebliebenen Zeilen hat Beethoven später zu anderen Arbeiten benutzt. Es finden sich da Entwürfe zum Schlusschor aus »König Stephan«, dann zu der Ouvertüre und mit Ausnahme des türkischen Marsches und der Harmonie-Musik hinter der Scene, zu allen Sätzen der »Ruinen von Athen« ******).
Aus dem Vorkommen dieser Entwürfe ist zu schliessen, dass die Arbeit, zu welcher die mitgetheilte Stelle gehört, spätestens im Jahre 1811, der Compositionszeit des »König’ Stephan« und der »Ruinen von Athen«, unternommen wurde. ln welch anderer Weise Beethoven die liegengebliebene Arbeit später wieder aufgenommen hat, werden wir gleich sehen.
Fischenich schreibt am 26. Januar 1793 aus Bonn an Charlotte von Schiller über Beethoven: »Er wird auch Schiller’s Freude und zwar jede Strophe bearbeiten«*******). Beethoven ging also schon früh mit dem Gedanken um, Schiller’s Hymne an die Freude in Musik zu setzen. In Skizzenbüchern aus verschiedener Zeit finden sich wiederholt Ansätze zur Compositon. In einem Skizzenbuche ********), welches grösstentheils Arbeiten zur
siebenten und achten Symphonie enthält und welches Beethoven mit sich herumführte, als er im Sommer 1812 in den böhmischen Bädern war, findet sich (umgeben von Arbeiten zum ersten und vierten Satz der Symphonie in F-dur Op. 93) die Bemerkung:
»Freude schöner Götterfunken Tochter
Overture ausarbeiten«
und zwei Seiten später folgender Entwurf:
abgerissene Sätze wie Fürsten sind Bettler u. s. w. nicht das ganze
abgerissene Sätze aus Schillers Freude zu einem ganzen gebracht

In diesem Entwurf finden wir die zwei Themata, welche uns als die Themata der Haupt- und Mittelpartie der Ouverture Op. 115 bekannt sind. Es ist also kein Zweifel, dass Beethoven jene Themata, die Grundbestandtheile der Ouvertüre Op. 115, mit dem Text des Schiller’schen Gedichtes zu einem Ganzen verweben wollte, und dass das Ganze die Form einer Ouverture erhalten sollte. Aus einigen innerhalb des Entwurfs stehenden Bemerkungen geht hervor, dass Beethoven nicht das ganze Gedicht in Musik setzen wollte. Es ist aber nun einerseits nicht einzusehen, wie Beethoven diejenigen Strophen, in denen der Dichter den Ton des Erhabenen anschlägt (z. B. »Ihr stürzt nieder, Millionen? Ahndest du den Schöpfer, Welt?«), mit den anderen, welche einen rein dithyrambischen Zug haben, einheitlich verbinden und in den Rahmen einer Ouverture bringen wollte: andererseits ist nicht einzusehen, wie er, ohne dem Gedicht zu schaden, jene, dem engen Rahmen der Ouverture widerstrebenden, gewichtigeren Strophen hätte weglassen können. Dann ist nicht klar, wie bei dem überwiegend instrumentalen Charakter der beiden Themata das vocale Element und damit der Text zur Geltung gebracht werden sollte. Ob nun Beethoven solche oder ähnliche Bedenken hatte, wissen wir nicht. Genug, das Stück wurde nicht so ausgeführt, wie es entworfen war. Der Entwurf löste sich gleichsam in zwei Theile auf. Der Text fand ungefähr zehn Jahre später im Finale der neunten Symphonie die cyklische Form, welche auf einfachen, breiten Grundlagen eine ausgedehnte Anwendung der Variationen-Form und des doppelten Contrapunktes gestattete und dadurch eine Herbeiführung der durch den Text bedingten Gegensätzlichkeit und Mannigfaltigkeit ermöglichte. Die dem instrumentalen Theil eingeborene »Freude« zur Entfaltung zu bringen, bedurfte es, so scheint es, einer äusseren Anregung. Diese Anregung scheint der (am 1. September 1814 eröffnete) Wiener Congress gebracht zu haben. Beethoven nahm die liegengebliebene Arbeit in anderer Form auf im September 1814. In einem Skizzenbuch aus dieser Zeit erscheint das Hauptthema des Allegro-Satzes der Ouverture anfänglich, wie in der Skizze vom Jahr 1812, im 3/4 -Takt, nämlich so:

Später hat Beethoven den 6/8 -Takt angenommen. Unmittelbar vor der Ouverture hatte er zur Feier der Anwesenheit der beim Congress versammelten Monarchen einen ungedruckten Chor: »Ihr weisen Gründer glücklicher Staaten« etc. geschrieben. Unmittelbar nach der Ouverture entstand die Congress-Cantate: »Der glorreiche Augenblick«. Das sind zwei Gelegenheits-Compositionen. Die Ouverture Op. 115 aber, mögen auch die Festlichkeiten des Congresses, das herannahende Namensfest des österreichischen Kaisers, die Aussicht auf eine Aufführung u. a. m. das Werk gezeitigt oder die Arbeit beschleunigt haben, ist darum doch keine Gelegenheits-Composition. Sie wurzelt in ihrem thematischen Bestand in einem anderen Boden. Sie ist die Ausführung eines Entwurfs aus früherer Zeit, und dieser Entwurf hätte eben so gut früher oder später und bei einer anderen Gelegenheit zur Ausführung kommen können. Die Ouverture Op. 115 kann ihrem Ursprung und ihrer Conception nach auf den Beinamen »zur Namensfeier« keinen Anspruch machen. Sie ist der Ausfluss einer Vorarbeit zum Finale der neunten Symphonie. In sich selbst zerfällt nun auch eine Wiener Tradition, nach welcher Beethoven in dem oft wiederkehrenden Motiv  mit Beziehung auf den Namenstag des Kaisers das Wort »VIVA!« habe ausdrücken wollen.

*) In der Anzeige der »Akademie« heisst es u. a.: »Die dabei vorkommenden Musikstücke sind sämmtlich von der Composition des Herrn Ludwig van Beethoven und bestehen 1) aus einer neuen Ouverture, 2) aus einem neuen Chor über Goethe’s Gedicht: die Meeresstille, und 3) aus dem grossen Oratorium: Christus am Oelberge«. Die Wiener Zeitung vom  6 Januar 1816 berichtet u. a. über die Aufführung »Wranizky dirigirte, Umlauf hatte den Platz am Klavier«. (Warum hatte Umlauf den Platz am Clavier?) Schindler erzählt (I. 248), dass Op. 112 und Op. 115 (nebst Christus am Oelberg) am 25. December 1815 »unter Leitung des Meisters zum ersten Mal aufgeführt wurden«. Ueber die Aufführung berichtet auch die Leipziger Allgemeine Musikalische Zeitung vom Jahre 1816, S. 1816, S. 78
**) Die Wiener Allgemeine Musikalische Zeitung vom Jahre 1818 berichtet (S. 150) über das Concert vom 16 April: »Zum Anfang hörten wir eine neue Ouverture von Herrn L. van Beethoven, welche nur ein mal bisher öffentlich gegeben wurde«. Später (S. 17)» wird über beide  Concerte u. a. berichtet: »Die sehr schöne geistvolle neue Ouverture des Herrn L. v. Beethoven……entzückte die Kenner«.
***) Jedenfalls eine Verwechslung des Datums.

****) Die Leipziger Allgemeine Musikalische Zeitung vom Jahre 1819 lässt sich (Seite 72) aus Wien berichten: »Beethoven’s sogenannte Jagd Ouverture entzückte, wie immer, seine zahlreichen Verehrer«. In Paris soll die Ouverture erschienen sein unter dem Titel: »La chasse, grande Ouverture en Ut” u. s. w.
*****) Die Ouverture erschien im Jahre 1825. Eine Besprechung findet man im 17. Heft der »Cäcilia«, ausgegeben im Juli 1826. Dies als Beweis, dass die Ouverture nicht, wie Schindler (Biogr. II, 153) sagt, nach Beethoven’s Tode erschienen ist.
*) Ein Bruchstuck mag heir eine Stelle finden:
**) »Charlotte von Schiller und ihre Freunde«, Bd. III. S. 100.
***) Das Skizzenbuch ist schon Seite 26 erwähnt.

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