Beethoven Studien im Generalbass, Contrapunkt und der Composition – Neue Ausgabe von Louis Köhler

Zweiter Abschnitt. Theorie der Composition: Erstes Capitel – Von den Elementen der Tonsetzkunst

Wie bekannt, gibt es in der Musik consonirende (wohlklingende) und dissonirende (übellautende) Intervalle als Zusammenklänge. Von der ersten Gattung, den Consonanzen, besitzen wir deren fünf. Den Einklang (unisonus), die Terz, Quinte, Sexte und Octave. Von diesen sind wieder einige vollkommen, die ändern unvollkommen. Zu den vollkommenen gehören: der Einklang, die Quinte und Octave zu den unvollkommenen: die Terz, (sowie die um acht Töne hoher liegende Decime) und die Sexte. Jene werden aus dem Grunde vollkommen genannt, weil sie weder erhöht noch erniedrigt werden können, ohne ihr Grundwesen einzubüssen; die Terz und Sexte hingegen heissen unvollkommen, weil man sie nach Erforderniss erhöhen oder erniedrigen, das ist klein und. gross machen kann, ohne ihre Natur zu schädigen.

Die noch übrigen Intervalle: die Secunde, Quarte, Septime und None sind Dissonanzen, und eben so die oben angeführten consonirenden, sobald sie vermindert oder übermässig gemacht werden.

Ueber die reine Quarte herrscht unter den Tongelehrten eine abweichende Meinung. Eben weil sie zwischen den vollkommenen und unvollkommenen Consonanzen gleichsam die Mitte hält, wird sie von einigen zu den ersteren, von ändern zu den letzteren gerechnet. Pedanten und Anbeter des Alterthums verweisen sie in die Rubrik der Dissonanzen. Die Gusti sind verschieden. Für mein Gehör hat sie, verbunden mit ändern Tönen, nicht den geringsten Misslaut.

Aus diesen musikalischen Elementen nun besteht die ganze Composition ; theils durch ihre Versetzung und Veränderung, theils durch Bewegung derselben, wenn man nämlich von einem Intervalle zum anderen fortschreitet.

Diese Bewegung (motus) ist dreifach: motus rectus, motus contrarius und motus obliquus. Der motus rectus, oder die gerade Bewegung, ist,wenn zwei, drei, vier oder mehrere Stimmen zugleich, entweder hinauf oder herab, stufen- oder sprungweise gehen:

Den motum contrarium, die widrige oder Gegenbewegung, besteht, wenn die eine Stimme hin auf, die andere herab, nämlich entgegen geht, entweder stufenweise oder mittelst eines Sprunges:

Der motus obliquus, die Seitenbewegung, besteht, wenn die eine Stimme durch einen oder stufenmässig steigt oder fällt, während die andere unbeweglich in eben demselben verbleibt:

Hinsichtlich dieser dreierlei Fortschreitungen bestehen vier Hauptregeln, und zwar: Erstens: von einer vollkommenen Consonanz in eine gleichfalls vollkommene geht man entweder durch den rnotum obliquurn oder contrarium:

Zweitens: von einer unvollkommenen zu einer vollkommenen wendet man eben so den motum contrarium oder obliquum an:

Drittens: von einer vollkommenen Consonanz in eine unvollkommene bedient man sich aller drei Bewegungen :

Viertens: von einer unvollkommenen zu einer ändern unvollkommenen sind nicht minder alle drei Moti anwendbar:

Ans diesen vier Universal- Regeln wird man beobachten, dass bei allen drei Fortschreitungen der motus contrarius und obliquua zu gebrauchen sei, dagegen die gerade Bewegung nur alsdann vermieden werden müsse, wenn nach einer unvollkommenen Consonanz eine vollkommene folgt der zwei solche hinter einander folgen. Auf diesen drei Bewegungen beruht das ganze harmonische Fundamental – Gesetz.

Pagina tratta da : Beethoven Studien im Generalbass, Contrapunkt und der Composition – Neue (Dritte) Ausgabe von Louis Köhler – Eigentum der Verleger. J. Schubert & C. Leipzig 1880.