Beethoven Studien im Generalbass, Contrapunkt und der Composition – Neue Ausgabe von Louis Köhler

Zweiter Abschnitt. Theorie der Composition: Drittes Capitel – Die fünf Gattungen des einfachen Contrapunktes.
Zweistimming (a due) mit Bemerkung.
Erste Gattung: nota contra nota

Die erste Gattung, worin gegen jede Note auch nur wieder eine von gleicher Gattung vor kommt, ist die allereinfachste Zusammensetzung, die Composition mag nun aus ganzen oder halben, Viertel- oder Achtelnoten bestehen. Für den Anfänger jedoch ist hier der Allabreve- Takt mit ganzen Noten am bequemsten. Es muss in der Oberstimme, welche zu einem Basse gesetzt wird, jedwede Note eine vollkommene oder unvollkommene Consonanz sein, die erste und letzte aber immer rein vollkommen. Dabei sind die drei Bewegungen wechselweise gut anzubringen, und es ist besser, ja am sichersten, weim man öfters den motum contrarium und öbliquum benutzt; denn diese zwei Fortschreitungen sind weit weniger Fehlern unterworfen, als der motus rectus, welcher in der Anwendung grösser Behutsamkeit bedarf, wie aus den Beispielen zu ersehen sein wird.

Hinsichtlich des Schlusses muss beobachtet werden, dass, wenn der gegebene Cantus fir- mus, der feste oder Choral-Gesang, unten steht, die vorletzte Note des Contrapunktes diegro- sse Sexte, wenn jedoch der Choral die Oberstimme einnimmt, jene vorletzte Note die kleine Unterterz sein müsse, worauf in die Octave oder in den Einklang cadenzirt, d. h. geschlossen wird. Diese beiden Intervalle sind auch zum ersten Takt verwendbar; ebenso die Quinte, jedoch diese niemals in der Unterstimme. In der Mitte hindurch dürfen sie nach einander Dicht Vorkommen. In der zweiten Gattung des Contrapunktes setzt man zwei halbe Noten auf eine ganze Note. Von diesen beiden Noten wird der erste Takttheil oder Niederstreich mit dem griechischen Wor- teThesis, der zweite oder Aufstreich aber mit Arsis bezeichnet, welcher technischen Ausdrücke man sich gewöhnlich zu bedienen pflegt. Jene halbe Note nun, so in Thesi zu stehen kommt, muss unbedingt jederzeit eine Consonanz, die andere aber, in Arsi, darf sowohl eine Dissonanz, wenn sie stufenweise geht, als consonirend sein, wenn sie in Sprüngen fortschreitet. Es findet somit in dieser Gattung des einfachen Contrapunktes keine Dissonanz anders statt, als wenn man den Raum, welcher zwischen jenen Noten existirt, die einen Terzen-Sprung auseinander liegen, ausfüllt:

Diese Ausfüllung, oder die zweite Note in Arsi, kann auch zuweilen eine Consonanz sein wie das folgende Beispiel einer Schlusscadenz zeigt, woselbst die erste Note in Thesi eine Quinte, die zweite in Arsi die grosse Sexte sein muss, wenn der Cantus firmus unten steht? hingegen, im Falle er die Oberstimme bildet, die erste Note gleichfalls eine Quinte die zweite jedoch eine kleine Terz erhält:

Der regelmässigen Cadenz wegen ist es räthlich, schon früher bei Ausarbeitung eines Choral – Satzes auf diese beiden Schlusstakte Bedacht zu nehmen. Um diese Gattung zu erleichtern, ist es auch erlaubt, im Coutrapunkte anstatt der ersten Note eine halbe Pause zu setzen,und wenn beide Stimmen allzu nahe zusammen kommen, Sexten-und Octaven-Sprünge zu machen, oder diese sich unter-uud übersteigen zu lassen, so, dass nämlich die obere tiefer, die untere aber höher liegt. Hauptsächlich sollen hier vermieden werden: zwei in Theai nach einander folgende Quinten oder Octaven, zwischen welchen sich in Arsi nur ein Terzen-Sprung vorfindet:

denn die inzwischen liegende Note wird wie gar nicht vorhanden angenommen, gerade, als ob es also dastand

weil deren Zwischenklaug wegen Kürze der Zeit und des engen Raumes unmöglich verhindern kauu, dass das Ohr nicht die Verhältnisse zweier auf einander folgenden Quinten und Octaven gewahren sollte. Eine andere Beschaffenheit hat es mit einem solchen Sprung, der einen grösseren Raum ausfüllt, allenfalls eine Quarte, Quinte oder Sexte indem dadurch das Gehör ungleich weniger beleidigt wird. (Cum licentia superiorum: nichts für ungut! will mir auch nicht gefallen. Werde niemals von dieser generösen Liceuz profitiren.) Rücksichtlich der Bewegung gilt alles früher Angeführte. In der dritten Gattung werden vier Viertel über oder unter eine ganze Note gesetzt,und dieses kauu auf mehrerlei Weise geschehen. Ersteus: wenn alle vier Noten Cousonauzeu sind:

Zweitens: wenn fünf Viertel steigend oder fallend stufenweise hinter einander folgen, so muss die erste Note eine Consonanz, die zweite aber abwechselud eine Dissonanz sein:

Drittens: kann auch die zweite und vierte Note eine Consonanz, die dritte aber eine Dissonanz sein:

Viertens: wenn der Cantus firmus unten liegt, so darf man von der Septime, wiewohl dieselbe eine Dissonanz ist, eiuen Terzensprung herab in die Quinte machen  die Note vor der Septime aber muss jederzeit die Octave sein:

Ist jedoch der Cantus firmus oben, so kann man von der Quarte mittelst eines Terzensprunges herab in die Sexte gehen-, allein vorerst muss die Terz liegen:

Diese Septime und Quarte heisst man eine Wechselnote, nota cambiata. Der Terzensprung von der zweiten zur dritten Note sollte eigentlich von der ersten zur zweiten sein, da alsdann die zweite anstatt der Sept die Sexte ausmachen würde:

Es können also in dieser Gattung alle vier Noten Consonanzen sein; oder nur die ersten drei, und die vierte eine Dissonanz  ebenfalls auch die erste und dritte consonirend, die zweite und vierte dissonirend; oder: die erste, zweite und vierte eine Consonanz, die dritte eine Dissonanz; nicht minder: die ersten drei Consonauzen, und die letzte eine Dissonanz:

Die Bewegungen (moti) werden wie oben beobachtet. Die erste Note in Thesi muss allezeit eine Cousonauz sein. Wenn der Choral (Canto fermo) unten steht, ist der vorletzte Takt also einzurichten, dass die Schlussnote desselben, vor der Octave am Ende, eine Sexte bilde

Ist jedoch der Cantus firmus oben, so muss der Contrapunkt also geführt werden, dass er in der letzten Note zur Terz einleitet, worauf der Einklang, oder’die Octave, den gänzlichen Schluss bildet:

Die vierte Gattung des einfachen Contrapunktes besteht aus zwei halben Noten gegen eine, welche in eben demselben Tone bestehen und oben über sich einen Verbindungsbogen haben, wovon die erste Note in Arsi, die andere in Thesi sein muss. Dieser Bogen wird eine Bindung, Ligatu- ra oder Syncope, genannt, welche zweierlei sein kann, nämlich: eine Bindung der Consonanzen oder der Dissonanzen. Die erstere ist, wenn beide halbe Noten, in Arsi und Thesi, consoniren:

Bei der zweiten muss die erste Note, in Arsi, jederzeit eine Consonanz, die andere, in Thesi, aber eine Dissonanz sein:

denn wenn man die gebundene Note sich weg denkt oder gar auslässt, so erscheinen alle Intervalle in ihrer Procedur als rein consonirend.

Demnach muss sich die Dissonanz immer stufenweise in die nächste Consonanz auflösen die gebundenen Consonanzen aber können auch sprungweise fortschreiten, wie bereits oben zu ersehen war. Wenn der Choral unten steht, so muss die Secunde in den Einklang, die Quarte in die Terz, die Septime in die Sexte, die None in die Octave aufgelöst werden, und der vorletzte Takt bekommt die durch eine Sept-Ligatur verzögerte Sexte.

Erscheint jedoch der Cantus firmus als Oberstimme, so resolvirt die Secunde in die Terz, die Quarte in die Quinte, die Sept in die Octave, die None in die Decime und zum Schluss geht im vorletzten Takte die gebundene Secunde nach der Terz hinab:

Es ist noch zu merken, dass, wenn in manchen Fällen die Bindung nicht Statt finden kann, man denselben Takt, doch nicht allzuhäufig, auch mit zwei frei angeschlagenen, unligirten Noten ausfüllen darf. Folgende Fortschreitungen sind verboten :

weil sie quinten- und octavenmässig klingen denn, so wie man sich die gebundenen Noten als nicht vorhanden denkt, werden reine Einklänge, Quinten und Octaven daraus:

Die fünfte Gattung heisst die zierliche oder verblümte, (Contrapunto fiorito, Stylus floridus weil darin, nebst den vier eesten Gattungen, in abwechselnder Vermischung, auch noch andere Veränderungen und Ausschmückungen Vorkommen dürfen:

Auch können, in Thesi, die ersten zwei Noten Vierte] lind die darauf folgende, in Arsi eine halbe, oder umgekehrt: die erste Note, in Thesi, eine halbe, die ändern beiden aber, in Ärsi Viertelnoten sein:

kurz, es ist, mit Ausnahme der im strengen Style unverletzbaren Grundregel: dass nur vollkommene und unvollkommene Accorde gemacht werden dürfen und alle dissonirenden verboten bleiben, gewissermassen schon eine freiere Scheibart, worin man nach Wohlgefallen manche Varietäten, auch eine gesangvollere Stimmenführung anbringen kann. Von vorzüglich guter Wirkung ist der gebundene, punktirte Styl, und demnach hier ganz besonders zu empfehlen. Die Cadenz im vorletzten und Schlusstakte ist jene der zweiten Gattung nämlich:

Pagina tratta da : Beethoven Studien im Generalbass, Contrapunkt und der Composition – Neue (Dritte) Ausgabe von Louis Köhler – Eigentum der Verleger. J. Schubert & C. Leipzig 1880.